Vortrag: Referentielle Nullsubjekte und schwache Pronominalsubjekte im Leben des Protopopen Awwakum

Dieser Vortrag berichtet über eine Untersuchung der Verteilung der referentiellen Nullsubjekte (NS-e) und schwachen Pronominalsubjekte (SPS-e) im Leben des Protopopen Awwakum, einem altrussischen Denkmal des 17. Jh. Erstens wird die Einwirkung der grammatischen Faktoren thematisiert, die für die Diskussion über die Ursachen des Wandels des Russischen von einer konsistenten zu einer partiellen NS-Sprache (vgl. Meyer 2011) relevant sind. Es wird festgestellt, dass SPS-e in der 1-2P, in Nebensätzen, mit l-Partizipien und mit ausgelassenen Kopulas öfter auftreten als in der 3P, in Hauptsätzen, mit anderen Tempusformen und mit overten Kopulas. Zweitens wird der Einfluss des Registers untersucht, da der Text die gehobene, durch das Altkirchenslawische beeinflusste Varietät mit der volkssprachlichen kombiniert (vgl. Zaliznjak 2008). Es wird gezeigt, dass die SPS-e in einigen Textfragmenten, die dem gehobenen Register zuzuschreiben sind, deutlich seltener vorkommen als im Rest des Textes. Es wurden korpuslinguistische Methoden verwendet. Die Belege für NS-e und SPS-e wurden nach grammatischen und registerbedingten Parametern klassifiziert. Dabei wurden die SPS-e nach dem pragmatischen Kriterium als gegebene Topiks oder Hintergrundelemente (vgl. Frascarelli 2007) definiert. Dafür wurde eine Annotation der Informationsstruktur durchgeführt. Darauf folgte die quantitative Auswertung in R.
Literatur
Frascarelli, Mara. 2007. Subjects, topics and the interpretation of referential pro: An interface approach to the linking of (null) pronouns. Natural Language & Linguistic Theory 25, Nr. 4: 691–734.
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Zaliznjak, Andrej Anatol’evič. 2008. Drevnerusskie ėnklitiki. Moskva: Jazyki slavjanskix kulʹtur.

Hinsichtlich der Subjektrealisierung lässt sich die Sprache von altrussischen Texten vor dem 15. Jh. als eine konsequente Nullsubjektsprache (NS-Sprache) charakterisieren: Normalerweise werden NS-e benutzt, während overte Pronominalsubjekte nur unter bestimmten syntaktischen oder semantisch-pragmatischen Bedingungen, z.B., Koordination mit anderen Subjekten oder Kontrast, vorkommen (vgl. Meyer 2011; Jung 2018; Madariaga 2018; 2022). Im Zeitraum vom 15. bis zum 17. Jh. ist aber eine Verbreitung von overten Pronominalsubjekten zuerst der 1. und der 2. Person (1-2P) und dann auch der 3P zu beobachten, deren Verwendung durch diese Bedingungen nicht motiviert ist (vgl. Borkovskij 1978; Meyer 2011). Schließlich stellen overte Pronominalsubjekte im gegenwärtigen Russischen die Basisoption dar, wobei referenzielle NS-e nur unter bestimmten Umständen auftreten (vgl. McShane 2009; Madariaga 2022), weshalb es u.a. von Roberts und Holmberg (2010) als eine partielle NS-Sprache eingestuft wird.
In der Forschungsliteratur werden unterschiedliche Erklärungen für diesen Wandel vorgeschlagen. Laut Meyer (2011) wurde er vom Wegfall der Auxiliare der 1-2P und somit der morphologischen Markierung der Person im Vergangenheitstempus verursacht. Dies habe zu einer „Verarmung“ („impoverishment“, vgl. Müller 2006) des Verbsystems geführt, was die Veränderung der Subjektrealisierungsmöglichkeiten im ganzen Sprachsystem bedingt habe (vgl. Meyer 2011). Laut Jung (2018) und Madariaga (2022) dagegen sei der Verlust der V-zu-T-Bewegung der Grund: Das Verb sei zu tief in der Struktur geblieben, um mit höheren Kategorien im T- und im C-Bereich interagieren zu können, wodurch der einheitliche Lizenzierungsmechanismus für NS-e weggefallen sei. Dabei behauptet Madariaga (2022), dass sich unter Einfluss von bestimmten Infinitivkonstruktionen sehr strikte Regeln für NS-Verwendung in eingebetteten Clauses entwickelt haben, woraus eine schnellere Verbreitung von schwachen Pronominalsubjekten in Nebensätzen resultiert habe.
Neben der Entstehungszeit stellt das Register einen weiteren außersprachlichen Faktor dar, aufgrund dessen sich Subjektrealisierungsmuster in diversen Texten voneinander unterscheiden können. So weist Meyer (2011) darauf hin, dass schriftliche Texte, die sich nach der kirchenslawischen Tradition richten, stärker zu NS-en tendieren als die Texte ungefähr derselben Epoche, die der alltäglichen oder geschäftlichen Kommunikation dienen und näher an die volkssprachliche Sprachverwendung sind.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Verteilung der referentiellen NS-e und schwachen Pronominalsubjekte im Leben des Protopopen Awwakum (Avvakum), einem altrussischen Denkmal des 17. Jh., zu untersuchen. Den Analysegegenstand bilden referenzielle Nominativsubjekte von finiten Sätzen im Indikativ und Konjunktiv. Die Fragestellung gliedert sich in zwei Teile. Als Erstes wird die Einwirkung der morphosyntaktischen Faktoren unter die Lupe genommen, die in der Forschungsliteratur mit dem Wandel des Russischen von einer konsequenten zu einer partiellen NS-Sprache in Verbindung gebracht werden. Basierend auf dem Forschungsstand wird hypothetisiert, dass der Anteil der schwachen Pronominalsubjekte in der 1-2P, in Nebensätzen sowie mit ausgelassenem Auxiliar höher ist als in der 3P, in Hauptsätzen und mit overtem Auxiliar. Die genannten Variablen werden separat untersucht.
Die zweite Phase der Analyse bezieht sich auf die registerbedingte sprachliche Variabilität, durch die sich Avvakum laut Sørensen (1957), Song (2003) und Zaliznjak (2008) charakterisiert. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass sich verschiedene Register durch bestimmte Merkmale manifestieren: So werden mit dem schriftlichen, vom Kirchenslawischen geprägten Register des 17. Jh. Aorist- und Imperfektformen sowie enklitische Objektpronomina in Zusammenhang gebracht (vgl. Živov 1988, Zaliznjak 2008), während postpositive Demonstrativa laut Mendoza (2011) hauptsächlich in den vernakulären Teilen des Textes auftreten. Um zu überprüfen, ob es eine Verbindung zwischen Verteilung der NS-e und der schwachen Pronominalsubjekte in Avvakum und Register gibt, werden die entsprechenden Proportionen in Clauses, die die oben genannten Registermerkmale beinhalten, mit den Proportionen im ganzen Text verglichen. Da Meyer (2011) feststellt, dass NS-e in Avvakum dominieren, lässt sich vermuten, dass sie in beiden Registern sehr zahlreich sind, wobei es im schriftlichen, vom Kirchenslawischen geprägten Register deutlich weniger schwache Pronominalsubjekte gibt. Als Ergänzung wird ein Exkurs in Stilometrie unternommen, der versucht, Textteile zu identifizieren, die dem einen oder dem anderen Register zuzuschreiben sind.
Als Ausgangsmaterial für die Untersuchung wird der vorverarbeitete Text aus der TOROT-Baumbank (Eckhoff und Berdicevskis 2015) verwendet. Dieser Text ist in Tokens und Clauses aufgeteilt und lemmatisiert sowie nach Wortarten, grammatischen Merkmalen und syntaktischen Dependenzrelationen annotiert. Im Rahmen dieser Arbeit wurde die Annotation der Informationsstruktur in INCEpTION (Klie et al. 2018) unternommen, anhand deren die für ihre Zielsetzung relevanten NS-e und Pronominalsubjekte identifiziert wurden. Zuerst wurden referentielle NS-e finiter Sätze von leeren Subjekten diverser infiniter und unpersönlicher Konstruktionen differenziert. Danach wurden diese und die Pronominalsubjekte von Indikativ- und Konjunktivsätzen nach Gegebenheit und Koreferenz annotiert, wofür das in Taylor und Pintzuk (2014) dargestellte Pentaset-Schema benutzt wurde. Darüber hinaus wurde für jede Clause ihre wahrscheinlichste Topik-Fokus-Struktur basierend auf den Ansätzen von Frascarelli (2007) und Krifka (2008) bestimmt. Somit wurde zwischen VP-Fokus, minimalem Fokus, maximalem Fokus, kontrastivem Topik, Aboutness-Shift-Topik, bekanntem Topik und Hintergrund unterschieden. Als schwache Subjekte wurden bekannte Topiks und Hintergrundelemente betrachtet. Schließlich wurden alle relevanten Belege anhand gezielt angepasster Suchaufträge in ANNIS (Krause und Zeldes 2016) ausfindig gemacht und in tabellarischer Form systematisiert. Darauf folgte die quantitative Auswertung.
Literatur- und Quellenverzeichnis
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Info

Tag: 03.11.2022
Anfangszeit: 14:45
Dauer: 00:30
Raum: Wiwi-Bunker —Room 3018
Track: Historical Linguistics
Sprache: de

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