Version 22-03-8
Vortrag: Der Distanzeffekt im Passiv
In der Forschungsliteratur besteht weitgehend Konsens darüber, dass der propositionale Inhalt eines Passivsatzes identisch mit dem eines äquivalenten Aktivsatzes ist (vgl. Kazenin 2001, Kulikov 2011).
a. Der Patient ruft den Arzt an.
b. Der Arzt wird vom Patienten angerufen.
Die außersprachliche Situation, das Denotat, ist in beiden Fällen dieselbe. Damit rückt die Frage in den Vordergrund, wodurch die Passivverwendung motiviert wird. In bisherigen Funktionsbestimmungen zum Passiv liegt der Fokus meist auf der Wirkung des Passivs, nur selten auf dem eigentlichen Zweck der Passivkategorie (vgl. Leiss 1992), den zu definieren, das Anliegen des Promotionsprojektes ist. Dem Passiv wird mitunter die Funktion der Defokussierung des Agens (vgl. Shibatani 1985), der Geschehensperspektive (vgl. Leiss 1992) oder der Inaktivierung einer Situation (vgl. Haspelmath 1990) zugewiesen.
Neuere Einsichten aus der Sprachpsychologie haben nun ergeben, dass mit Passivierung ein psychologischer Distanzeffekt einhergeht (vgl. Chan & Maglio 2019). Dieser postulierte Konnex von Passiv und Distanz soll in dem Promotionsprojekt weiterverfolgt werden. Die Erwartung ist, dass der Distanzeffekt weiteren Aufschluss über den Zweck, also die Motivierung, des Passivs gibt und dass die Distanzmetapher außerdem das Potenzial birgt, zu einer Synthetisierung bisheriger Funktionsbestimmungen beizutragen.
Zur Überprüfung der Hypothese werden bisher in der Literatur aufgeführte Hinweise auf einen Link zwischen Passiv und einem Distanzeffekt, der zwar oft indirekt beschrieben, aber nicht explizit formuliert oder erfasst wurde, recherchiert und systematisch aufgearbeitet. Die methodologische Herausforderung besteht in erster Linie darin, der theoretischen Argumentation weitergehend ein empirisches Fundament zuzuführen. Konkret geht es um die Frage, wie ein Distanzeffekt auf sprachlicher Ebene gemessen werden könnte.
In dem Vortrag sollen in einer Auswahl Hinweise auf einen Zusammenhang von Passiv und Distanz präsentiert werden und im Anschluss mögliche Lösungswege zur empirischen Überprüfbarkeit gesammelt und zur Diskussion gestellt werden.
Chan, Eugene Y. & Sam J. Maglio (2019): The Voice of Cognition: Active and Passive Voice Influence Distance and Construal. In: Personality and Social Psychology Bulletin 46,4. 547 – 558.
Haspelmath, Martin (1990): The Grammaticalization of Passive Morphology. In: Studies in Language, 14. 25 – 72.
Kazenin, Konstantin I. (2001): The Passive Voice. In: Martin Haspelmath & Ekkehard König & Wulf Österreicher & Wolfgang Raible (Hrsg.), Language Typology and Language Universals / Sprachtypologie und sprachliche Universalien / La typologie des langues et les universaux linguistiques. An International Handbook / Ein internationales Handbuch / Manuel international (HSK, 20,2). Berlin, New York: De Gruyter. 899–916.
Kulikov, Leonid (2011): Voice Typology. In: Jae Jung Song (Hrsg.), The Oxford Handbook of Linguistic Typology. Oxford: Oxford University Press. 368 – 397.
Leiss, Elisabeth (1992): Die Verbalkategorien des Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung (Studia linguistica Germanica, 31). Berlin, New York: De Gruyter.
Shibatani, Masayoshi (1985): Passives and Related Constructions. A Prototype Analysis. In: Language 61,4. 821–848.
Info
Tag:
26.03.2022
Anfangszeit:
11:25
Dauer:
00:30
Raum:
Jamala
Track:
Semantik/Pragmatik
Sprache:
de
Links:
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ReferentInnen
Rebecca Karrer |